Waggon am Kulturgleis

Artikel Offenbach Post, 14. Januar 2016:

 

Ausgezeichnet

 

Vom Untergrundprojekt zum Kulturpreisträger

 

Ein Ort zum Verweilen, Musikmachen und gegenseitigen Kennenlernen: Der Waggon am Kulturgleis steht auf den Überresten der 2004 abgerissenen Hafenbahn direkt am Main und bietet seit 2008 an jedem Wochenende Veranstaltungen. Momentan ist aber Winterpause. ©
Ein Ort zum Verweilen, Musikmachen und gegenseitigen Kennenlernen: Der Waggon am Kulturgleis steht auf den Überresten der 2004 abgerissenen Hafenbahn direkt am Main und bietet seit 2008 an jedem Wochenende Veranstaltungen. Momentan ist aber Winterpause. ©

 

Offenbach - Vom studentischen Untergrundprojekt zum städtischen Kulturpreisträger: Der Waggon am Kulturgleis hat sich zu einem festen Veranstaltungsort in der Stadt entwickelt. Von Julia Radgen 

 

Was dafür nötig war und wie sie das Preisgeld einsetzen könnten, erzählen Vorstand und Betreiber des Projekts. „Es ist definitiv eine Wertschätzung“, sagt Markus Seumel, und Georg Klein ergänzt: „Es tut gut, dass unsere Arbeit und unser Herzblut respektiert werden.“ Grund zur Freude ist der Kulturpreis der Stadt Offenbach 2015. Beim Neujahrsempfang am 1. Februar wird er den Machern des Waggons feierlich überreicht. „Überrascht hat uns das schon“, geben die beiden zu. Ist der Waggon aus dem kulturellen Untergrund jetzt in höhere Sphären aufgestiegen? „Die Hochkultur stirbt ohne Underground“, sagt Klein, und für den stehe der Waggon noch immer. Konzerte, Theater, Kunst, Partys – jedes Wochenende locken Veranstaltungen Besucher in den alten Güterwaggon, Baujahr 1957, der am Mainufer in Höhe des Isenburger Schlosses steht. Dass es drinnen eng wird, ist nicht nur unvermeidlich, sondern gehört zum Konzept.

 

Seit 2008 hat sich bei den Waggon-Machern eine Doppelstruktur bewährt: Die früheren HfG-Studenten Georg Klein und Torsten Kauke kümmern sich um Betrieb und Programm, der Verein Soziale Plastik sammelt Spenden und bemüht sich um Fördergelder. Außerdem verschönern und reparieren die Mitglieder den Wagen. „Es gibt viele, die mitmachen möchten, aber nicht wissen wie“, sagt Vereinsvorsitzende Agnes Christ. Mit Reparaturarbeiten, Sachspenden und Hilfsdiensten engagieren sich Mitglieder ehrenamtlich. Das Projekt des Vereins Soziale Plastik, benannt nach Joseph Beuys’ Prinzip „Jeder Mensch ist ein Künstler“, soll offen sein für unterschiedliche Ideen und Besucher. „Alle Menschen, Kulturen und Szenen sind willkommen“, sagt Klein. Der Eintritt ist immer frei, Spenden sind willkommen. Genauso wie Ideen, mögen sie auch unkonventionell sein. So beherbergte der Waggon Musiker, die auf dem Theremin spielten, es gab Stummfilmvertonungen und Performances. Pro Abend kommen zwischen sechs und 40 Leute.

 

Markus Seumel und Agnes Christ (Vorstandsvorsitzende) sowie Georg Klein (Betreiber) freuen sich über den Preis. © Radgen
Markus Seumel und Agnes Christ (Vorstandsvorsitzende) sowie Georg Klein (Betreiber) freuen sich über den Preis. © Radgen

Eine Wundertüte sind die regelmäßigen Jam Sessions, bei denen Musiker spontan zusammen spielen. „Sie sind das Herzstück des Waggons“, sagt Klein. Bei mehr als 80 Ausgaben kamen nicht selten Besucher mit selbstgebastelten Instrumenten. „Die zeigen anderen, wie sie das gemacht haben.“ Kommunikation ist im engen Wagen kein Kann, sondern ein Muss. Auch Neu-Offenbacher möchten die Waggon-Macher einbinden. „Wir haben schon vor der Winterpause ein Angebot für Flüchtlinge angeleiert“, sagt Klein. Für den Frühling ist ein Projekt geplant, das vor allem auf musikalischem Austausch beruht. Denn Lieblingsplatten vorstellen gelingt, ohne dieselbe Sprache zu sprechen.

Den direkten Austausch mit ihrem Publikum schätzen auch die auftretenden Bands. „Sie bekommen direktes Feedback, ihre Zuhörer stehen maximal zwei Meter entfernt“, sagt Christ. Aus dem Geheimtipp ist längst ein etablierter Veranstaltungsort in Rhein-Main geworden. „Es gibt wenige Orte, an denen Musiker vor 20 Leuten auftreten können, um sich mal auszuprobieren“, so Christ. Das hat sich auch ins Ausland herumgesprochen. So erwacht der Waggon am Kulturgleis am Sonntag um 19 Uhr aus seinem Winterschlaf, um die Band Bantam Lyons zu beherbergen. Die Franzosen wollten ihre Tournee nicht ohne einen Auftritt in dieser außergewöhnlichen Konzertstätte beenden.

 

Ohne Eintritt wirtschaftet der Verein mit wenig Geld. „Unser Mitgliedbeitrag von 15 Euro ist eher symbolisch“, sagt Christ. Der mit 2560 Euro dotierte Kulturpreis helfe enorm. Vor allem unter den Gema-Gebühren ächzen die Veranstalter. Geldspenden von Musikern und Freunden verhinderten bisher eine finanzielle Schieflage. Und wofür wird der Rest ausgegeben? „Wir freuen uns immer über Geld für unsere Schlechtwetterkasse“, sagt Christ. So kann sich der Verein beispielsweise an den Reisekosten der Musiker beteiligen. Und: „Im Waggon gibt es immer etwas zu reparieren.“ Auch Fahrradständer und Geländer für die Treppe stehen auf der Wunschliste. Wenn im März der Regelbetrieb wieder losgeht, werden bewährte Reihen wie die Jam Session und Klirrbarr für experimentelle Elektromusik fortgesetzt. Neu geplant ist Street Tango. „Wir freuen uns, wenn wir etwas anbieten können, das wir noch nicht im Waggon hatten.“ Das sei gar nicht so einfach.

 

 

Artikel Offenbach Post, 30. Juni 2023:

 

Musik auf der Schiene ist Kult

JUBILÄUM - Seit 15 Jahren besteht der Waggon am Kulturgleis

 

 

 In Offenbach eine Institution: Georg Klein (Foto) betreibt mit Torsten Krauke und dem Verein Soziale Plastik den Waggon am Kulturgleis. In diesem Jahr feiert der Veranstaltungsort 15-jähriges Jubiläum. Foto: Bräuner
In Offenbach eine Institution: Georg Klein (Foto) betreibt mit Torsten Krauke und dem Verein Soziale Plastik den Waggon am Kulturgleis. In diesem Jahr feiert der Veranstaltungsort 15-jähriges Jubiläum. Foto: Bräuner

 

Offenbach – Dass sich der Waggon am Kulturgleis - in Kennerkreisen bloß „Der Waggon“ - zu einer kulturellen Institution Offenbachs mausern würde, hätte am Anfang seiner Geschichte wohl kaum jemand für wahrscheinlich gehalten. Denn selbst den beiden Initiatoren und ehemaligen HfG-Studenten Georg Klein und Torsten Kauke war anfangs selbst nicht klar, dass der Waggon überhaupt zu einem Konzertraum werden würde.

Ursprünglich habe dort eine Suppenküche einziehen sollen, um die damals fehlende Mensa der Hochschule zu kompensieren. Einerseits war diese Idee leider nicht ganz durchdacht, gesteht Klein im Nachhinein: „Das scheiterte schon am fehlenden Wasseranschluss.“ Andererseits sei die Musikszene in Offenbach durch Mangel an Konzertstätten schon zu dieser Zeit derart unter Druck gewesen, dass sich der Waggon als Ort für Musik quasi aufgedrängt habe.

 

Der Bedarf sei nach wie vor riesig, sagt Klein. Der lokalen Szene fühlen sie sich im Waggon am Kulturgleis auch heute noch als Zufluchtsort für Veranstaltungen verpflichtet. Nichtsdestotrotz freue man sich, auch über die Grenzen Offenbachs nationalen und internationalen Künstlerinnen und Künstlern eine Bühne zu bieten. Das Programm ist in jedem Fall von Georg Klein und Torsten Kauke handverlesen. Eintönig werden darf es trotzdem nicht. „Wir möchten bei uns nicht nur ein Musikgenre abbilden, sondern versuchen, uns so breit wie möglich aufzustellen“, betont Klein.

 

Dass der Waggon die Pandemie überstanden habe, sei vor allem seiner Mitgliedschaft im Verband mit dem unaussprechlichen Namen „Landesarbeitsgemeinschaft der Kulturinitiativen und soziokulturellen Zentren“ (LAKS) zu verdanken, findet Klein. Zuvor hätten sie das Finanzielle samt der Gema-Gebühren selbst stemmen müssen. Hätten für jede noch so geringe Förderung aufwendige Anträge schreiben müssen. Das übernehme nun alles der Verband.

 

Mittlerweile ist der Waggon am Kulturgleis aus der Offenbacher Kulturlandschaft nicht mehr wegzudenken. Erst 2015 wurden die Initiatoren mit dem Kulturpreis der Stadt Offenbach ausgezeichnet. Neben dem eigenen Programm ist man auch in diesem Jahr wieder Teil des am Offenbacher Mainufer stattfinden Riviera-Festivals für Pop- und Clubkultur.

So souverän wie heute konnten sie zu Anfang noch nicht mit dem Kulturwaggon umgehen, erinnert sich der Mitinitiator des Waggons: „Vor allem die ersten drei Jahre mussten wir notgedrungen eine steile Lernkurve hinlegen.“ Besonders der Standort direkt am Durchgang des Maindeichs auf Höhe des Isenburger Schlosses habe sie zu Beginn vor Herausforderungen gestellt. „An einem so öffentlichen und gleichzeitig versteckten Ort, an dem sich so viele verschiedene Menschen begegnen, mussten wir ziemlich bald klare Regeln aufstellen, was geht und was nicht“, sagt Klein und fügt an: „Bei uns ist die Kulturarbeit zu großem Teil Sozialarbeit.“

 

Das entspricht wiederum gänzlich dem Diktum, das sich der Kulturwaggon und der dazugehörige Verein „Soziale Plastik“ auf die Fahne geschrieben haben: „Jeder Mensch ist ein Künstler“, zitiert Klein Joseph Beuys, „der sein soziales Umfeld mitgestaltet.“ Und dazu gehöre es, nicht nur vielseitige Kulturveranstaltungen anzubieten, sondern auch mit den unterschiedlichen Menschen in seinem Umfeld umzugehen und sie einzubeziehen, so Klein. An diesem Anspruch hat sich nichts geändert, bekräftigt er: „Der Waggon ist nach wie vor eine begehbare Kunstinstallation.“

 

Trotzdem liegt der Fokus des Waggons auf seinem breiten Angebot, für das sich zur Feier des Jubiläums besondere Mühe gegeben wird. Dazu gehören die „Mainuferspiele“, bei denen ein breites Publikum angesprochen werden soll, sagt Klein. Am Wochenende des 8. und 9. Juli wird es neben Trommel- und Zeichenkursen eine mobile Minigolfbahn geben. Den Abschluss des Wochenendes machen traditionell zwei Konzerte.

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